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Schlechte Nachrichten

Kopflos
Kopflos

Mein Opa ist an Corona gestorben. Er starb allein. Vielleicht kann man sagen, dass er, im Gegensatz zu vielen anderen, Glück hatte. Das Virus befiel nicht die Lunge. Er litt die letzten Tage seines Lebens nicht an qualvollen Atemzügen oder unerträglichem Husten. Er hatte Fieber, er wurde schwächer und nach und nach hat sein Körper aufgegeben. Er hat nicht mehr gegessen und sich gegen Pflegekräfte gewehrt, die ihm einen Tropf legen wollten. Es hörte sich für mich ein bisschen danach an, als wollte er gehen, als hätte er genug. Am Schluss ist er eingeschlafen. 

 

Früher war er sehr oft mit uns im Urlaub, mit meinen Eltern, meinem Bruder und mir. Er war auch oft spontan da, wenn wir ihn brauchten. Wenn ich ins Meer wollte und es allen anderen viel zu kalt war, hat er sich immer erbarmt. Er genoss die Natur, wanderte mit uns und machte schöne Fotos. Sein Schnarchen erschütterte das ganze Haus. Wenn ich daran zurückdenke, kann ich die Nachbeben fast noch spüren.

Gutes Essen war ihm ein Genuss, es musste aber nicht kompliziert sein. Wenn ich an ihn denke, denke ich an Gulasch und an Kartoffelpuffer mit Apfelmus. Man konnte immer ganz genau sehen, ob es ihm schmeckte, denn umso leerer der Teller wurde, umso höher wanderte sein Daumen bis seine Hand mit einem Daumen hoch neben dem Teller lag. Darüber freue ich mich heute noch. 

 

Kurz vor Weihnachten bekamen wir die Nachricht, dass er Corona positiv war. Ich hatte mich isoliert und war nach Hause zu meinen Eltern gefahren. Wir machten uns große Sorgen, aber lange hatte er gar keine Symptome. Langsam kroch die Hoffnung, dass er die Infektion überstehen würde, in unsere Sorgen.

Dann bekam er Fieber und plötzlich hörten wir die Worte: ‘Er ist in der präfinalen Phase’. Meine Mutter wollte hinfahren, damit sie seine Hand halten und ihn bei seiner letzten Reise begleiten kann. Und in jeder anderen Situation hätte ich sie bei ihrem Wunsch, bei ihm zu sein, unterstützt und wäre mitgekommen, um auch selbst Abschied zu nehmen. Aber es sprach so viel dagegen. Mein Opa war 300 km weit weg, in einem Altersheim in Hagen, in dem es sehr, sehr viele Corona Fälle gab. Man hätte ihn nur in Vollmontur besuchen dürfen.

Die Krankenhäuser in Hagen waren zu dieser Zeit überbelegt und keine weiteren Corona Patienten konnten aufgenommen werden. So musste er in seinem Heim bleiben, aber das hieß auch, dass er bei Pflegekräften war, die ihn kannten. Sie hatten in dieser Zeit einen ungeheuerlich schweren Job. Denn nicht nur die Krankenhäuser waren überfüllt, auch der Hausarzt meines Opas war an Corona gestorben; er war erst 45 Jahre alt. So lastete der Großteil der medizinische Versorgung auf dem Pflegepersonal des Altersheims. 

Hätten wir ihn besuchen wollen, hätte sich einer von uns mit Schutzkleidung eine halbe Stunde zu ihm setzen können und hätten ihn dann wieder zurücklassen müssen. Man wäre vermutlich nicht bei ihm gewesen, wenn er gestorben wäre. Die Vorstellung bei ihm zu sein, aber ihn nicht richtig berühren zu können, um dann wieder gehen zu müssen, kam mir schrecklich vor. Auch die Pflegekräfte, mit denen meine Mutter und meine Tante telefonierten, meinten, dass ein Besuch für ihn schon nicht mehr wahrzunehmen wäre und außerdem eine Gefahr für sie. Außerdem wäre es noch mehr Arbeit für das überlastete Pflegepersonal, die ohnehin schon unendlich viel leisteten. Es war die richtige Entscheidung nicht zu fahren, aber es fühlte sich sehr falsch an.

 

An dem Tag als mein Opa starb, war ich wieder auf dem Weg nach Berlin. Kurz nach Silvester musste ich meine einzige sichere Rückfahrt nach Berlin antreten, mit einer Freundin in ihrem Auto, denn mit dem Zug fahren, wollte ich auf gar keinen Fall. 

Ich wollte die Menschen nicht sehen, die 6 Stunden lang so tun als würden sie essen, nur damit sie sich die Maske nicht aufsetzen müssen. Das hat mich schon seit dem Beginn der Pandemie sehr angestrengt - der Versuch nachzuvollziehen, warum Menschen nur für kurzzeitige Bequemlichkeit, es in Kauf nehmen, dass sie womöglich Teil einer Infektionskette sind, die am Ende jemanden ins Grab bringt. Jemanden der geliebt und gebraucht wird. Jemand, der vielleicht ganz allein ist mit der Krankheit und dem Tod. Jemand der womöglich unter Qualen erstickt. Und jetzt war es persönlich für mich. Mein Opa lag im Sterben und wir konnten uns nicht verabschieden.

 

So war ich alleine, gerade wieder in meiner Wohnung angekommen, als ich erfuhr, dass er gestorben ist. Und obwohl ich damit rechnete, traf es mich sehr. Ich fühlte mich sehr einsam und bereute, nicht zu Hause bei meiner Familie geblieben zu sein. Nichts wollte ich mehr als eine Umarmung. Eine zweite schlechte Nachricht gab es noch dazu. An dem Tag an dem mein Opa starb, wurde meine andere, meine letzte Oma, auch positiv auf Corona getestet. Ich hatte Angst, dass sie als nächstes stirbt. Sie bedeutet mir sehr viel. Wir haben vor einem Jahr angefangen uns Briefe zu schreiben und ich finde wir haben uns noch einiges zu erzählen. Ich wusste, ich würde es nicht verkraften, wenn ich sie auch noch verlieren würde.

 

Die Sorge um ihn, wurde von der Sorge um meine Oma abgelöst. Ich war überfordert verzweifelt und allein. Meine Familie und meine Freunde waren für mich da so gut es ging, aber die meiste Zeit war ich alleine in meiner Wohnung. Es gab keine Ablenkung, nichts was mich auf andere Gedanken brachte. Ich war nicht traurig, ich war irgendwie leer. Die Corona News prasselten auf mich ein und ich saugte alle Informationen auf, als würde es etwas ändern, wenn ich wüsste, was gerade passiert. 

 

Die Art der Trauer, die sehr wehtut, aber auch heilt und den Blick nach vorne ermöglicht, kam sehr spät. Die ersten Wochen war ich verloren in Selbstmitleid, anders kann ich es nicht beschreiben. Es war einfach alles zu viel. Ich war sauer, dass es unsere Familie getroffen hatte, obwohl wir doch versuchten alles richtig zu machen. Ich war sauer, dass sich ausgerechnet die zwei ältesten und gebrechlichsten der Familie infiziert hatten. Ich war enttäuscht von der Realität, weil ich mir ein perfektes Jahr vorbereitet hatte und jetzt alles in Scherben vor mir lag, obwohl ich nichts falsch gemacht hatte. Ich war sauer, dass niemand wirklich Schuld ist, sondern viele ein bisschen und niemand so richtig. Und ich hasste mich dafür, dass ich immer wieder die Nachrichten durchscrollte anstatt einfach aufzuhören und traurig zu sein. Ich verlor mich in einem Strudel aus schlechten Nachrichten. Die eigenen persönlichen vermischten sich mit den schlechten Nachrichten der ganzen Welt.

 

Ich dachte auch oft darüber nach, dass ich jetzt alle anschreien könnte, die die Maske nicht richtig tragen. Das ich jetzt einen ordentlichen Grund für die Wut habe, die schon seit den ersten Tagen der Pandemie in mir brodelt. Jetzt darf ich wirklich wütend sein, auf alle Menschen, die sich herausnehmen sich nicht an die Regeln zu halten. Ich könnte seinen Tod als schweres Gewicht für all die Argumente nehmen, die ich am liebsten allen Menschen an den Kopf werfen würde, die auf Corona-Demos gehen, die ernsthaft denken, dass es egal ist, wenn nur die Alten sterben. All diese Menschen wollte ich anschreien: Mein Opa ist tot, wegen euch! Ihr seid schuld! 

Mir ist bewusst, dass es nicht so einfach ist. Aber ich war sauer und sehr enttäuscht. Ich versuchte gar keinen Kontakt zu Menschen zu haben, ging nur noch Nachts spazieren und bestellte Nahrungsmittel, damit ich nicht in Geschäfte gehen musste. 

Ich konnte die Idee nicht ertragen, draußen im Supermarkt jemanden mit nackter Nase zu sehen. Ich hatte Angst vor meinem eigenen Menschheitshass und entschied, dass es für mein eigenes Seelenheil besser wäre, all dem eine Weile fern zu bleiben. Ich kann von zu Hause arbeiten und studieren, also war das kein großes Problem. Später entschied ich, dieses Semester auszusitzen, es war alles zu viel und zu unwichtig. Abgaben für die Uni zu machen, während außen herum die Welt auseinanderbricht, fühlte sich sinnlos und unnötig an. Ich arbeite seit Anfang der Pandemie an einem eigenen Projekt, ein Traumprojekt und selbst dabei merkte ich, wie unwirklich mir mein eigenes Projekt vorkam. An vielen Tagen setzte ich mich hin und versuchte zu arbeiten, aber verlor sehr schnell den Fokus und scrollte wieder und wieder durch die Corona-News. Freunde empfahlen mir, eine Weile die Nachrichten auszublenden, sie nicht zu beachten, erst gar nicht danach zu schauen. Ich beneidete ihre Teilnahmslosigkeit und fragte mich, warum ich es selbst nicht konnte. Aber es ging nicht. Ich konnte nicht so tun, als sei in meiner kleinen Bubble alles in Ordnung und das Elend dieser Zeit berühre mich nicht. Es hat mich berührt und zehrte an meinen Kräften. Oft blieb ich den Großteil des Tages im Bett.

 

Richtig Trauern konnte ich erst in den letzten Tagen. Es ist über einen Monat her. Ich meine Momente, an denen man sich erinnert und die Erinnerungen wehtun, aber gleichzeitig auch sehr schön sind. Man weint, aber ein Lächeln schleicht sich zwischen die Tränen. Das liegt vielleicht daran, dass meine Oma die Infektion überstanden hat. Zu zuversichtlich will ich eigentlich noch nicht sein, wegen der möglichen Spätfolgen, aber erleichtert bin ich trotzdem.

 

Mein Opa wurde in einem Friedwald begraben. Nur meine Eltern und mein Bruder waren dort. Meine Tante und mein Onkel und ich konnten nicht dabei sein, aber ich ging hier in Berlin zur gleichen Zeit in den Wald und dachte an ihn. Das war gut, obwohl ich mir nie etwas aus Beerdigungen gemacht habe, aber einen Moment zu haben, an dem man bewusst Abschied nimmt, war wichtiger für mich, als ich gedacht hätte. Ich war sehr traurig, über den Verlust, aber auch darüber, dass ich nicht bei meiner Familie sein konnte. Wenn es wieder geht, werde ich seinen Baum besuchen.

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